May Ayim - Rassismus und Verdrängung im vereinten Deutschland

Der Text "May Ayim, Rassismus und Verdrängung im vereinten Deutschland" stammt aus dem Buch:

Schwarze Frauen der Welt. Europa und Migration, herausgegeben von Marion Kraft, Rukhsana Shamim Ashraf-Khan, 1994


Das Thema »Rassismus und Verdrängung im vereinten Deutschland« ist nicht nur sehr weit gefaßt, es beinhaltet auch zwei unterschiedliche Perspektiven: Bis vor kurzer Zeit waren die BRD und die DDR zwei räumlich und ideologisch getrennte Staaten, was sich sowohl rückblickend als auch gegenwärtig in aktuellen Erscheinungsformen und Umgangsweisen mit dem Rassismus in Ost- und Westdeutschland zeigt.

Ich selbst habe bisher ausschließlich in westdeutschen Städten gelebt und im Westteil von Berlin, und das wird den Blickpunkt und die Schwerpunkte meiner Ausführungen bestimmen.

Ich bin in den sechziger Jahren in vor- und kleinstädtischer Umgebung in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, und zwar in einer weißen deutschen Pflegefamilie. Ich hatte vier weiße Geschwister und war von uns Fünfen die Zweitälteste.

Die sechziger Jahre waren der Zeitraum, in dem viele Männer und Frauen aus vorwiegend europäischen Nachbarländern zur Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik angeworben wurden. 1955 wurde in diesem Zusammenhang der erste Vertrag der Bundesregierung mit Italien geschlossen, in den sechziger Jahren folgten Verträge mit Spanien, Griechenland, Türkei, Portugal, Tunesien, Marokko und Jugoslawien.

Diese Anwerbung begann in einer Zeit, als es in der Bundesrepublik

1,2 Millionen Arbeitslose gab. Offenbar konnten diese Arbeitslosen nicht vermittelt werden, und offensichtlich war es für die Industrie nutzbringender, Ausländerinnen anzuwerben, als den Arbeitsmarkt für Inländerinnen attraktiver zu gestalten. Industrielle konnten auf diese Weise schlechte Arbeitsbedingungen beibehalten oder sogar wieder einführen (wie Schicht-, Akkord-, Fließband- und Nachtarbeit). Die bundesdeutsche Regierung und deutsche Unternehmer und Unternehmerinnen sahen die Einwandernden nicht vorrangig als Menschen, sondern als manövrierbare Arbeitskräfte, von denen man/ frau sich erhoffte, daß sie, je nach wirtschaftlicher Situation in der Bundesrepublik, das Land verlassen oder (wieder) einreisen würden. »Rotationsprinzip« hieß das offizielle Schlagwort für die erstrebte Pendelbewegung, und »GastarbeiterIn« war die höflich klingende Umschreibung für die Tatsache, daß für die »Eingeladenen« kein Daueraufenthalt vorgesehen war.


Erst Anfang der siebziger Jahre bemühte man sich um sogenannte Integrationsmaßnahmen. Dazu gehörten z.B. Lehrerinnenfortbildungen für die Arbeit mit Kindern von Migrantinnen. Die staatlichen Programme waren nur selten entgegenkommend gemeint, um das Heimisch- und Seßhaftwerden der MigrantInnen von vornherein zu erleichtern. Viel häufiger waren sie verspätete Reaktionen auf gegebene Tatsachen und auf allmählich offen zutagetretende Feindseligkeit. Vor allem im Verlauf der Wirtschaftskrisen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre trat der latent vorhandene Rassismus an die Oberfläche und äußerte sich zunehmend in entsprechenden »Ausländer-Raus«-Parolen und in der Verbreitung rechtsextremer Ideologien.

Die Integrationsmaßnahmen zielten auf die Vermeidung von sozialen Konflikten und forderten die einseitige Anpassung der ImmigrantInnen an deutsche Verhältnisse bei gleichzeitiger Verweigerung der BürgerInnenrechte (z.B. Wahlrecht). Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich zwar nicht an Arbeitsmigrantinnen in meiner unmittelbaren Umgebung, aber ich erinnere mich an häufig gehörte Aussprüche wie z.B. »Spaghettifresser« zur Bezeichnung und Ächtung von Italienerinnen oder an Behauptungen, daß fast alle AusländerInnen bei der Müllabfuhr arbeiten.

Tatsächlich sind bis heute die meisten der schlecht bezahlten Arbeits plätze und die mit gefährlichsten Arbeitsbedingungen von Immigrantinnen besetzt. Die damals angeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter

wurden zwar nach beruflichen und gesundheitlichen Kriterien sorgsam ausgewählt, diese Kriterien standen jedoch in keinem Verhältnis zu den miserablen Arbeitsplätzen, die sie erwarteten; die Auswahlpraktiken als solche waren bereits entwürdigend und sexistisch. Zum Kriterium »gesundheitliche Tauglichkeit« gehörte z.B., daß bei Frauen eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden mußte. Wurde bei einer bereits eingereisten Frau eine Schwangerschaft festgestellt, so konnte sie in ihr Herkunftsland — auf Staatskosten — zurückgeschickt werden. Der deutsche Unternehmer bzw. die deutsche Unter- nehmerin hatte quasi Reklamationsrecht.

Ausmusterungsgründe waren außerdem: fortgeschrittene Karies, Paradontose, Hör- und Sehstörungen. Auch wenn es für manche so aussehen mag — Tatsache ist, daß die meisten Menschen aus fernen Ländern, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, sich nicht »frei« entscheiden konnten, ob und wann sie hierher kamen. Sie sind keine TouristInnen. Sie verließen ihr Land auf der Flucht vor Hunger, Krieg, Verfolgung und Vertreibung und/ oder auf der Suche nach Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten. Daß in Europa mit dem Golfkrieg — für kurze Zeit! — Krieg, Angst und Bedrohung plötzlich zu aktuellen Tagesthemen wurden, heißt nicht, daß die meisten Menschen auf diesem Globus in den letzten Jahrzehnten in Frieden gelebt hätten.

Mein Vater kam Ende der fünfziger Jahre aus Ghana nach Deutsch land, um hier zu studieren. Ghana erlangte als erstes afrikanisches Land 1957 den völkerrechtlichen Status der Unabhängigkeit, in den darauffolgenden Jahren kamen mehr und mehr AfrikanerInnen auch aus anderen afrikanischen Ländern nach Deutschland, zunächst vor- wiegend Studentinnen, inzwischen hauptsächlich Flüchtlinge. Mein Vater kam und blieb nicht.

Ich habe ihn immer besser aus Erzählungen gekannt als aus realen Begegnungen; ich blieb lange Zeit die einzige Schwarze in meiner Umgebung. Die ersten Begegnungen mit anderen Schwarzen Menschen erlebte ich — wie die Geschwister in meiner Pflegefamilie — in der imaginären Welt meiner Kinderbücher und Kinderlieder: »Onkel Toms Hütte« und die »Zehn kleinen Negerlein« — beispielsweise.

Die Vorstellung, die ich als Kind aus der Welt der Erwachsenen übernahm, war: Schwarze Menschen sehen komisch aus; sie sind etwas häßlich, gruselig und ein bißchen doof. Oder, sie sind breit grinsend, ganz nett und freundlich, und sie sind trotzdem ein bißchen doof. Irgendwo dazwischen muß ich mich auch selbst gesehen haben. Es fiel mir leichter, mich mit weißen Prinzessinnen zu identifizieren als mit Figuren, die mir ähnlich sahen. Ich ging noch nicht zur Schule, da bat ich meine Pflegemutter, sie möge mich weiß waschen. Ich hatte schon die erste Lektion in Sachen Rassismus gelernt: weiß ist besser!

Als mein afrikanischer Vater eines Tages leibhaftig vor der Tür stand, war das die Sensation und der Schrecken für die gesamte Umgebung, für meine Freundinnen und Spielkameradinnen der Schrecken des Tages. Die einen staunten mit offenem Mund und tuschelten hinter vorgehaltener Hand, die anderen rannten vor Schreck weg.

In der Schule erfuhren wir — und mit wir meine ich so ziemlich alle von uns, die in der Bundesrepublik aufgewachsen sind — nichts über das Leben von Immigrantinnen in der Bundesrepublik und schon gar nichts über Schwarze Menschen in diesem Land.

Wir erfuhren nicht, daß der einmillionste Immigrant, ein Portugiese, bei seiner Einreise in die Bundesrepublik ein Motorrad geschenkt bekam und willkommen geheißen wurde.

Wir erfuhren nicht, wann und warum sich die geheuchelte Freundlichkeit gegenüber Immigrantinnen in offene Feindseligkeit verwandelte.

Wir erfuhren nicht, daß sich einige Lebenswege von Afrikanerinnen

in Deutschland bis in die Zeit des Mittelalters und noch weiter zurück

dokumentieren lassen.

Wir erfuhren nicht, daß der erste afrikanische Student mit einer juristischen Arbeit über Schwarze in Europa promovierte — und dies nicht im Jahre 1967, sondern im Jahre 1729!

Und wir erfuhren nicht, daß Schwarze Deutsche in der Nazizeit verfolgt, zwangssterilisiert, vertrieben und umgebracht wurden.

Wir hörten von Carl Peters, »Hänge-Peters« genannt, weil er in den deutschen Kolonien Ostafrikas die meisten Schwarzen pro Tag ermordete.

Wir hörten von »Eingeborenen«, »Menschenfresserinnen« und grausamen »Wilden«, die durch die »Großtaten europäischer Entdeckerinnen« von der »Barbarei« in Richtung »Zivilisation« »entwickelt« wurden. Bis heute sollen sie sich entwickeln und einwickeln lassen. Je nach Verpackungskunst und Interessenlage wird Unterdrückung von den Herrschenden kaschiert und Verarmung als »Ursprünglichkeit« hochfrisiert.

Mit anderen Worten: Was die Themen Kolonialgeschichte, Nationalsozialismus und Rassismus betrifft, so sind wir in der Schule auf ganzer Linie gründlich fehlinformiert und verdummt worden.

Viele der Arbeitsmigrantinnen der ersten Einwanderergeneration aus den fünfziger Jahren haben in der Bundesrepublik inzwischen das Rentenalter erreicht. In Bielefeld wurde 1987 der erste türkische Seniorenclub eröffnet.

Derzeit leben über fünf Millionen Immigrantinnen im nunmehr vereinten Deutschland. Ober 80 Prozent der sogenannten AusländerInnen leben hier schon mehr als zehn Jahre, und 60 Prozent ihrer Kinder sind bereits hier geboren. Doch noch immer versteht sich die Bundesrepublik nicht als Einwanderungsland, noch immer gilt Schwarz und deutsch als exotische Kombination. Wer nicht typisch deutsch aussieht — maßgebend ist noch immer der arische Idealtypus —, der bzw. die gehört hier scheinbar nicht hin.

Als ich vor einigen Jahren eine afro-deutsche Frau kennenlernte, die 1895 in Hamburg geboren wurde, habe ich auch gestaunt. Inzwischen ist es mir selbstverständlich, daß viele Schwarze Deutsche längst Enkel und Urenkel haben.

Das zeigt zugleich, daß sich auch für mich in den letzten Jahren viel geändert hat. Vor allem durch die Arbeit an dem Buch Farbe bekennen, das von Dagmar Schultz, Katharina Oguntoye und mir herausgegeben wurde, hat sich mein Bewußtsein über mich selbst und mein Bewußtsein als Schwarze in Deutschland sehr verändert. Inzwischen gibt es in verschiedenen Städten, sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands, organisierte Gruppen von Schwarzen Deutschen, und auch wenn die Schwarze Community in diesem Land klein ist, sie ist da, sie ist tatkräftig, und sie wächst beständig.

Die Vereinigung von DDR und BRD hat für ImmigrantInnen, Exilierte, Jüdinnen und Schwarze Deutsche bisher nicht viel sichtbar Positives gebracht, sondern eher viel offensichtlicher werdenden und wachsenden Rassismus und Antisemitismus. Zur Zeit ist besonders in den fünf neuen Bundesländern rassistische Gewalt ein alltägliches Faktum, und bereits bei den anfänglichen Ost-West-Feierlichkeiten war unsere Teilnahme nicht gefragt. Nord-Süd war plötzlich out. Erst im Wahlkampf stand wieder *Multikulturelles« auf dem Programm. Aber daß wir »out« sind, heißt nicht, daß wir nicht mehr da sind. Und daß wir meist nur zu »unseren« Themen — Rassismus, Ausländergesetz, Migration etc. — eingeladen sind, heißt nicht, daß wir uns nicht trotzdem überall einbringen werden.

»Rassismus und Verdrängung« wird auf absehbare Zeit ein aktuelles Thema in Deutschland bleiben. Das ist bezeichnend und beängstigend, und dennoch ist es für mich kein Grund zur Resignation, sondern viel eher eine Aufforderung zu verstärkter Aktion, was z.B. beinhaltet, mehr und bessere Strategien und Bündnisse zu schaffen, sowohl national als auch international. Und dazu, wie Audre Lorde sagt, brauchen wir nicht Freundinnen und Freunde zu werden, wir müssen jedoch lernen, zusammenzuarbeiten.

Ab 1992 werden die Grenzen zwischen den europäischen Ländern abgebaut. Gleichzeitig laufen in allen europäischen Ländern Vorbereitungen, sich noch stärker als bisher von den weiterhin in Abhängigkeit gehaltenen Ländern der sogenannten »Dritten Welt« abzugrenzen.


Restriktive Gesetze beschränken zunehmend Einwanderungsmöglichkeiten, Aufenthaltsrecht und Arbeitsmöglichkeiten für Exilierte und ImmigrantInnen in allen europäischen Ländern, und der alltägliche Rassismus bedroht auch das Leben derer, die nicht um Abschiebung oder Ausweisung zu fürchten haben.

Es sind nicht »Minderheiten«, die da ausgeschlossen werden sollen.

Nein, wir sind die Menschen der Mehrheiten.



Literatur

Lorde, A.: Lichtflut. Berlin 1988

Oguntoye, K./Opitz, M. /Schultz, D. (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den

Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986

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